Montag, 1. Dezember 2008

Der angebundene Elefant


Als ich klein war, mochte ich den Zirkus sehr. Und was mir am Zirkus am meisten gefiel, waren die Tiere. Am meisten fiel mir der Elefant auf, der von allen Kindern am meisten gemocht wurde. Während der Vorstellung fiel das Tier durch sein ungeheuerliches Gewicht, seine Größe und seine Kraft auf, aber nach dem Auftritt, und kurz bevor er hinter die Bühne ging, wurde der Elefant immer an einen kleinen Holzpflock gebunden. Der Holzpflock war nur ein kleines Stück Holz, das wenige Zentimeter in den Boden reichte, und obwohl die Kette massiv und schwer war, schien es mir eindeutig, dass ein Tier, das mit seiner Kraft ganze Bäume ausriss, sich ohne Schwierigkeiten vom Holzpflock befreien und fliehen könnte! Was hält ihn fest? Warum flieht er nicht?

Mit fünf, sechs Jahren vertraute ich noch der Weisheit der Erwachsenen. Und also fragte ich meinen Lehrer, Onkel und Vater. Einige erklärten mir, dass der Elefant nicht floh, weil er dressiert sei. Meine folgende Frage lag auf der Hand: und wenn er dressiert ist, warum binden sie ihn fest? Ehrlich gesagt erinnere ich mich an keine sinnvolle Antwort. Doch heute glaube ich, sie zu kennen:

Der Elefant flieht nicht, weil er seit er sehr klein ist an solche Holzpflöcke gebunden wurde. Ich schloss die Augen und stellte mir das wehrlose neugeborene Elefantchen vor, das am Holzpflock angebunden liegt. Ich bin sicher, dass zu dieser Zeit das Elefanchen schob, zog und herumsprang, um sich vom Pflock zu befreien. Trotz seiner Mühen konnte es sich nicht befreien, weil jener Holzpflock wirklich zu fest für es war. Ich stellte mir vor, wie das Elefantchen ermüdet einschlief und am nächsten Tag es nochmal versuchte, und am nächsten Tag wieder, und am darauffolgenden wieder. Bis eines Tages, einem schwarzen Tag für seine Zukunft, das Tier seine Machtlosigkeit akzeptierte und sich mit seinem Schicksal abfand. Dieser enorme Elefant flieht nicht, weil er glaubt, dass er es nicht kann. In sein Gedächtnis hat sich jener Moment eingeprägt, und die Machtlosigkeit, die er als Neugeborener fühlte. Und niemals mehr versuchte er, seine Kraft erneut zu testen.

Wir denken, dass wir viele Sachen nicht können, einfach deswegen weil einmal, vor langer Zeit, als wir klein waren, wir es versucht und nicht geschafft haben. „Ich kann nicht, ich kann nicht, und werde es nie können.“

2 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Liebe Katharin! Ich habe gerade die Geschichte gelesen und fand sie wirklich schön.
Manchmal können einfache Geschichte einem de Augen öffnen und einen für einen kleinen Moment aus dem Alltag holen!
Ich hoffe, Du hast viele Leser! Ich bin auf jeden Fall weiterhin dabei!
Hannah

Unknown hat gesagt…

ohje, da fehlte ein 'a'. Dann jetzt eben zwei: Liebe Katharinaa!
Liebe Grüße aus Nancy!
Hannah